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↓ Technikforschung und Theoriearbeit. Oder warum Informations-, Wissens- und Netzwerkgesellschaft als kulturwissenschaftliche Erklärungen scheitern müssen.

16:30 - 17:00 - Z.108/109

Fabian Ziemer (Hamburg)

Durch Programme wie Ableton Live sind alle Werkzeuge der professionellen Musikproduktion niedrigschwellig auf jedem gängigen Computer installierbar. Der Umgang mit der Software, ihr Sitz im Leben (Hengartner 2004: 40) und die Frage, wie alltägliches Handeln als Prozess der Selbstführung (Foucault 1994: 246f, 2004) und Sinnerzeugung (dazu Cassirer 2001, 2002, 2002a) verstanden werden kann, sind – über meine Magisterarbeit hinaus – die zentralen Fragen meines Dissertationsprojektes. Der Gebrauch von Ableton Live erscheint im Forschungs- und Analyseprozess mitunter als ambivalent bis paradoxal. Die Nutzung wird zuweilen im selben Interview und sogar innerhalb einer Satzfolge als Form der Arbeit und Nicht-Arbeit, als Form der Freizeit und Nicht-Freizeit, als Belastung und Entlastung sowie als Erfüllung und Enttäuschung beschrieben. Die Grenze zwischen ‚Rookie‘ und ,Music Producer‘ wirkt unbestimmbar, da es sich genau genommen nicht um eine Grenze, sondern um eine permanente Bewegung handelt. Das „Enabling-Potenzial“ (Schönberger 2015: 206) professioneller Musikproduktion qua Download legt den Blick auf eine beständige Diffraktion des Selbst qua Iteration frei.

In dieser Gemengelage erscheint eine tiefere Durchdringung mittels Theoriearbeit geboten. Thomas Hengartner hat darauf verwiesen, dass die forschende Auseinandersetzung „Theorie nicht nur mitreflektieren, sondern auch mitschreiben soll“ (1999: 325). Diese Wechselseitigkeit von empirischer Forschung und kulturtheoretischer Vertiefung beschreibt den zentralen Aspekt meines Beitrages. 

Ausgehend von der Kulturphilosophie Ernst Cassirers geht es mir nicht um die Technik an sich, sondern darum, das wie der Konstruktion von Wirklichkeit in ihrer unabgeschlossenen Pluralität herauszustellen – hier am Beispiel der Softwarenutzung. Handlungsleitendes Erkennen ist laut Cassirer nicht ein bloßes Aufnehmen oder reines Wiederholen, sondern ein immanenter zirkulierender Aushandlungsprozess, wozu für Cassirer auch die Ablehnung von jeglichem Reduktionismus zählt, sei er nun biologistisch, vitalistisch, psychologistisch oder sozial. Hiermit tritt Cassirer nicht nur einer Vorstellung des sozialen Determinismus entgegen, sondern spricht sich im Kern für die Anerkennung der Fähigkeiten der Selbstgestaltung und des schöpferischen Eigensinnes aus. 

Das Anregungspotenzial einer subjektorientierten und empirischen Kulturwissenschaft besteht für mich darin, einen Begriff von ,kultureller Praxis‘ als Teil einer kritischen Analyse von unten zu entwerfen. Heuristische Verallgemeinerungen wie Informations-, Wissens- und Netzwerkgesellschaft, die das Ganze der Gesellschaft – quasi von oben – beschreiben, müssen aus dieser Perspektive jedoch scheitern, da sie keine Einordnung von Praxis liefern, sondern dergestalt Produkte der (kulturellen) Praxis selbst sind. 

Entgegen eventuell bereits geweckter Erwartungen kann zum jetzigen Zeitpunkt und in Anbetracht der Kürze des Beitrages keine fertige Theorie ausgerollt werden, zumal ein Mitschreiben an Theorie keine bezugsfertigen Theoriegebäude errichten, sondern vielmehr Perspektiven auf Forschung und Diskussionen eröffnen will.

1 Link zu Ableton Live: https://www.ableton.com/de/live/

Literatur

Cassirer, Ernst (2001): Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil. Die Sprache. In: Recki, Birgit (Hg.): Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 11. Hamburg 2001

Cassirer, Ernst (2002): Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil. Das mythische Denekn. In: Recki, Birgit (Hg.): Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 12. Hamburg 2001.

Cassirer, Ernst (2002a): Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil. Phänomenologie der Erkenntnis. In: Recki, Birgit (Hg.): Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 13. Hamburg 2002.

Foucault, Michel (1994b): Das Subjekt und die Macht. In: Dreyfus, Rabinow: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Weinheim, S. 241-261. [zuerst Frankfurt 1987]

Foucault, Michel (2004): Das Spiel des Michel Foucault. In: Ders. Dits et Ecrits. Schriften III. Frankfurt/M, S. 391-429. [zuerst Paris 1994]

Hengartner, Thomas (2004): Zur „Kultürlichkeit“ von Technik. Ansätze kulturwissenschaftlicher Technikforschung. In: Tagung der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften vom 12. Und 13. November 2003 in Bern, S. 39-57.

Hengartner, Thomas (1999): Forschungsfeld Stadt. Zur Geschichte der volkskundlichen Erforschung städtischer Lebensformen. (= Lebensformen, Bd. 11) Hamburg/Berlin.

Schönberger, Klaus (2015): Digitale Kommunikation: Persistenz und Rekombination als Modus des soziokulturellen Wandels. In: Zeitschrift für Volkskunde. 111/2015 Heft 2. Münster et. al., S. 201-213.