Home Programm Programmübersicht Rahmenprogramm Book of Abstracts Downloads Services Anmeldung Datenschutz
Anmeldung
Menü

🡣

Seit Beginn der Covid-19-Pandemie hat medial vermittelte Lehre eine starke Konjunktur erfahren. Begleitet wurde diese Entwicklung durch eine kontrovers geführte Diskussion an den Hochschulen und in den Feuilletons, die zum Anlass des vorliegenden Beitrags wurde.

Am Beispiel deutscher Universitäten und mit Schwerpunkt auf dem Konzept der Präsenz möchte ich zeigen, wie sich in der diskursiven Verhandlung digitaler Lehre und der Aneignung technogener Lehr-Räume Interaktionsbedürfnisse und -normen in der Anfangsphase der Pandemie (2020-2021) manifestieren.

Ich beziehe mich dabei auf Umfragen unter Lehrenden und Studierenden (Universität Passau 2020, Universität Marburg 2020, bundesweite Studierendenbefragung Stu. diCo II 2021), Medienberichte und -kommentare sowie eigene Beobachtungen und greife zurück auf die Theorien der Affordanz, medien- und interaktionstheoretische Überlegungen (Beck 2000, Goffman 2001), die ANT und das Konzept der Beheimatungsstrategien (s. z.B. Bausinger 2001, Greverus 2005 und Eggel 2014).

In Diskussionen um Ermöglichungs- und Gefahrenpotenziale digitaler Lehre wird deutlich, wie sich Lehr-Lern-Erfahrungen verändert haben, aber auch, welche Verständnisse und Erwartungshaltungen in Bezug auf gemeinsame akademische Wissensproduktion und gelingendes Studium den Positionierungen von Expert:innen, Lehrenden und Studierenden eingeschrieben sind und welchen Transformationen diese unterliegen. Beschreibungen (vermeintlicher) Effekte digitaler Medieninfrastrukturen spiegeln privilegierte vs. nichtprivilegierte Perspektiven und Bedürfnisse, aber auch (Re-)Konfigurationen von Interaktion.

Diese lassen sich insbesondere anhand der Diskursivierung von Präsenz nachzeichnen – von Imaginationen digitaler Kopräsenz als partizipationsförderndes Modell der Zukunft bis zu ihrer negativierenden und teils pathologisierenden Dämonisierung und von der im progressiven Duktus vorgebrachten Verabschiedung körperlicher Anwesenheit bis zu ihrer mythisierenden Idealisierung. Den Zusammenhang dieses Spannungsfeldes mit der Zuschreibung von Medieneigenschaften und Mensch-Technik-Verhältnissen sowie mit Prozessen der Herstellung von (digitaler) Kopräsenz im Zusammenspiel aus Mediendispositiven und Nutzer:innenverhalten – durch Agency, Habitualisierung und Beheimatung – und dem Erleben der Pandemie, die sowohl transformierende als auch beharrende Kräfte hervortreten lässt, möchte ich in meinem Beitrag näher beleuchten.

Durch Programme wie Ableton Live sind alle Werkzeuge der professionellen Musikproduktion niedrigschwellig auf jedem gängigen Computer installierbar. Der Umgang mit der Software, ihr Sitz im Leben (Hengartner 2004: 40) und die Frage, wie alltägliches Handeln als Prozess der Selbstführung (Foucault 1994: 246f, 2004) und Sinnerzeugung (dazu Cassirer 2001, 2002, 2002a) verstanden werden kann, sind – über meine Magisterarbeit hinaus – die zentralen Fragen meines Dissertationsprojektes. Der Gebrauch von Ableton Live erscheint im Forschungs- und Analyseprozess mitunter als ambivalent bis paradoxal. Die Nutzung wird zuweilen im selben Interview und sogar innerhalb einer Satzfolge als Form der Arbeit und Nicht-Arbeit, als Form der Freizeit und Nicht-Freizeit, als Belastung und Entlastung sowie als Erfüllung und Enttäuschung beschrieben. Die Grenze zwischen ‚Rookie‘ und ,Music Producer‘ wirkt unbestimmbar, da es sich genau genommen nicht um eine Grenze, sondern um eine permanente Bewegung handelt. Das „Enabling-Potenzial“ (Schönberger 2015: 206) professioneller Musikproduktion qua Download legt den Blick auf eine beständige Diffraktion des Selbst qua Iteration frei.

In dieser Gemengelage erscheint eine tiefere Durchdringung mittels Theoriearbeit geboten. Thomas Hengartner hat darauf verwiesen, dass die forschende Auseinandersetzung „Theorie nicht nur mitreflektieren, sondern auch mitschreiben soll“ (1999: 325). Diese Wechselseitigkeit von empirischer Forschung und kulturtheoretischer Vertiefung beschreibt den zentralen Aspekt meines Beitrages. 

Ausgehend von der Kulturphilosophie Ernst Cassirers geht es mir nicht um die Technik an sich, sondern darum, das wie der Konstruktion von Wirklichkeit in ihrer unabgeschlossenen Pluralität herauszustellen – hier am Beispiel der Softwarenutzung. Handlungsleitendes Erkennen ist laut Cassirer nicht ein bloßes Aufnehmen oder reines Wiederholen, sondern ein immanenter zirkulierender Aushandlungsprozess, wozu für Cassirer auch die Ablehnung von jeglichem Reduktionismus zählt, sei er nun biologistisch, vitalistisch, psychologistisch oder sozial. Hiermit tritt Cassirer nicht nur einer Vorstellung des sozialen Determinismus entgegen, sondern spricht sich im Kern für die Anerkennung der Fähigkeiten der Selbstgestaltung und des schöpferischen Eigensinnes aus. 

Das Anregungspotenzial einer subjektorientierten und empirischen Kulturwissenschaft besteht für mich darin, einen Begriff von ,kultureller Praxis‘ als Teil einer kritischen Analyse von unten zu entwerfen. Heuristische Verallgemeinerungen wie Informations-, Wissens- und Netzwerkgesellschaft, die das Ganze der Gesellschaft – quasi von oben – beschreiben, müssen aus dieser Perspektive jedoch scheitern, da sie keine Einordnung von Praxis liefern, sondern dergestalt Produkte der (kulturellen) Praxis selbst sind. 

Entgegen eventuell bereits geweckter Erwartungen kann zum jetzigen Zeitpunkt und in Anbetracht der Kürze des Beitrages keine fertige Theorie ausgerollt werden, zumal ein Mitschreiben an Theorie keine bezugsfertigen Theoriegebäude errichten, sondern vielmehr Perspektiven auf Forschung und Diskussionen eröffnen will.

1 Link zu Ableton Live: https://www.ableton.com/de/live/

Literatur

Cassirer, Ernst (2001): Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil. Die Sprache. In: Recki, Birgit (Hg.): Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 11. Hamburg 2001

Cassirer, Ernst (2002): Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil. Das mythische Denekn. In: Recki, Birgit (Hg.): Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 12. Hamburg 2001.

Cassirer, Ernst (2002a): Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil. Phänomenologie der Erkenntnis. In: Recki, Birgit (Hg.): Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 13. Hamburg 2002.

Foucault, Michel (1994b): Das Subjekt und die Macht. In: Dreyfus, Rabinow: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Weinheim, S. 241-261. [zuerst Frankfurt 1987]

Foucault, Michel (2004): Das Spiel des Michel Foucault. In: Ders. Dits et Ecrits. Schriften III. Frankfurt/M, S. 391-429. [zuerst Paris 1994]

Hengartner, Thomas (2004): Zur „Kultürlichkeit“ von Technik. Ansätze kulturwissenschaftlicher Technikforschung. In: Tagung der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften vom 12. Und 13. November 2003 in Bern, S. 39-57.

Hengartner, Thomas (1999): Forschungsfeld Stadt. Zur Geschichte der volkskundlichen Erforschung städtischer Lebensformen. (= Lebensformen, Bd. 11) Hamburg/Berlin.

Schönberger, Klaus (2015): Digitale Kommunikation: Persistenz und Rekombination als Modus des soziokulturellen Wandels. In: Zeitschrift für Volkskunde. 111/2015 Heft 2. Münster et. al., S. 201-213.

Teil-)autonome Waffensysteme werden nicht erst seit dem Angriffskrieg auf die Ukraine und dem dort zunehmenden Einsatz verschiedener unbemannter (aber bislang nicht autonomer) Luftfahrzeuge (i.d.R. Drohnen) kontrovers diskutiert. Politiker:innen, Zivilgesellschaft, Militär und Wissenschaft debattieren seit Jahren, ob und inwieweit mitder Ausweitung von KI-basierter, maschineller Autonomie ein Verlust an menschlicher Kontrolle in und über wichtige Kriegshandlungen (z.B. Tötungsentscheidungen) droht. In diesen Diskussionen ist vor allem das Konzept der „Meaningful Human Control“ (vgl. Sharkey 2020) zentral, das (völker-)rechtliche wie ethische Verantwortung in der Interaktion gewährleisten soll. Militär und Rüstungsindustrie arbeiten daher bspw. an KI-basierten Systemen, die rechtlichen Rahmungen entsprechen und ein „ethics by design“ mitbringen sollen. Aus kulturanthropologischer Perspektive stellt sich die Frage danach, wie diese Systeme ethisches Handeln zu gewährleisten suchen und welche Vorstellungen von Gesellschaft und kriegerischen Auseinandersetzungen dabei grundlegend sind. Der Vortrag bietet Einblick in eine aktuell laufende Forschung, die sich als Teil eines interdisziplinären Forschungsverbunds (MEHUCO. Meaningful human control. Autonome Waffensysteme zwischen Reflexion und Regulation) den soziokulturellen Dimensionen autonomer Waffensysteme zuwendet. Auf Basis von Interviews und ersten ethnografischen Einblicken widmet sich der Vortrag der Frage danach, welche kollektiv getragenen Vorstellungen zukünftiger Kriege bei der Entwicklung von Waffensystemen Bezugspunkte sind und welche Formen der Wirklichkeitserzeugung (vgl. Dippel/Warnke 2022) dabei relevant werden. Sharkey, Noel (2020): Fully Autonomous Weapons Pose Unique Dangers to Humankind, in: ScientificAmerican, 322 (2), S. 52-57. Dippel, Anne/Warnke, Martin (2022): Tiefen der Täuschung. Computersimulationen und Wirklichkeitserzeugung. Matthes&Seitz: Berlin.